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Zugeordnete Kategorien: Spieltechnik
Liebe Forenmitglieder!
In einem älteren Post vernahm ich den Satz: "Wenn man den Ton trifft, ist es egal, wie er heißt." (Danke für deine wunderbare Formulierung, lieber Aranton!) Bis ich zur Geige kam, quälte ich mich mit Quintenzirkel, Tonarten und Notenbezeichnungen. Ich spiele seit meinem vierten Lebensjahr Instrumente und sang einige Zeit im Chor. Ich hatte niemals Antennen für Musiktheorie, sondern entschied rein nach "Stimmigkeit" und "Bauchgefühl". Notenlesen kann ich bis heute nicht besonders, ich verbinde seit Anbeginn eine geschriebene Note mit ihrem Klang, Lagenwechsel greife ich tendiell aus der Luft, dass Berühren des Halses irritiert mich eher. Letztlich ist mir auch die Lage egal, ich orientiere mich ja eh am Ton. Tonleitern u. Referenztöne finde ich eher störend, als hilfreich. Zum Glück habe ich eine tolle Lehrerin gefunden, die mich nicht mit Musiktheorie "quält", sondern mir die Stücke vorspielt und ich sie nach Gehör nachspiele.
Gibt's hier noch mehr, die so lernen wie ich? Würde mich gerne dazu austauschen.
Ja, es gibt verschiedene "Kompetenzen", die sich individuell unterschiedlich entwickeln. Die "Audiellen Menschen" haben es leicht Melodien, Harmonien und Rhythmen zu hören und umzusetzen. Es gibt aber auch die visuellen Lerntypen, die müssen sich das Ganze ansehen. Denen fällt es meist viel leichter vom Blatt zu spielen. Dazu kommt dann noch das Haptische und das Kognitive. Da hat ein Jeder sein eigenes Set an Stärken und Schwächen. Und die Welt des Geigenspiels ist so bunt und vielfältig, dass auch jeder für sich seine Ökonische finden kann.
Ich bin auch vom Schwerpunkt her ein "Audieller", Intonation war nie ein Problem, freies Spiel nach Gehör war von Anfang an dabei, nur das Notenlesen, das macht mir nach wie vor wenig Freude, ist einfach anstrengend, auch wenn es mit Konzentration auch gut laufen kann. Aber ich beschäftige mich immer wieder damit, auch wenn es in meiner musikalischen Praxis eher selten vorkommt.
Für mich ist Musik eine Sprache. Und Sprachen kann man durchaus auch ohne Lesen, Schreiben oder gar Grammatik (=Harmonielehre, Theorie) lernen und anwenden. Und doch ist man ohne diese Extrafertigkeiten limitiert.
Hallo,
also ich habe eine 13-jährige Schülerin, die motorisch und gehörsmäßig sehr begabt ist und am liebsten Geige studieren würde. Aber sie hatte bis vor zwei Jahren einen Unterricht, der einerseits nicht sehr anspruchsvoll war und andererseits ihre Fähigkeit, gut nach Gehör zu spielen, ausnutzte. Notenlesen kann sie zwar einigermaßen, aber man merkt die Mühe, die es sie kostet, und fehlerfrei ist sie nicht, wenn es mal um Tonartwechsel usw. geht. Ständiges auswendiges Üben hat immer ihre schon vorhandenen Begabungen weiter unterstützt, die anderen Fertigkeiten hat sie dadurch allerdings immer umschifft. Das hat leider zwei Nachteile:
1. Es ist nicht so präzise. Kleine Details, z.B. in der Artikulation oder Dynamik, oder "unwichtige" Fakten, dass z.B. der eine Schlusston einer Phrase ein Viertel lang ist und bei der Parallelstelle eine halbe Note - über so etwas spielt sie unbekümmert hinweg. Alles bleibt ein wenig ungefähr.
2. Sie kommt im Verhältnis zu ihren technischen Möglichkeiten sehr langsam voran. Im Grunde muss ich mit ihr die Stücke einüben, so viele Lesefehler sind da. Der Punkt, an dem man ist, wenn man die Töne verstanden hat, ist eigentlich ein Anfangspunkt. Ab da kann man sich um die Interpretation und deren technisch Umsetzung kümmern. Aber diesen Ausgangspunkt erreicht sie so spät, dass sie schlichtweg viel weniger Stücke lernt und als Folge davon auch viel weniger musikalische Erfahrungen sammelt als für sie optimal wäre.
In ihrem Alter kann man noch gar nicht sagen, wie sie sich später entwickeln wird. Ich möchte ihr nicht den Mut nehmen. Aber Gehör und Instrumentalfähigkeiten sind absolut ausreichend, um später zu studieren. Die Lesekenntnisse sind so weit zurück, dass ich sicher bin, dass ihr Traum alleine daran scheitert, wenn sie sich nicht ganz drastisch verbessert. Sie bekommt alleine schon nicht die Fülle an Repertoire zusammen, die ich für altersgemäß halten würde. Wie ich ihr besseres Blattspiel beibringe, darüber zerbreche ich mir am meisten den Kopf. Wir kommen allmählich weiter, aber nicht wirklich raketenmäßig. Ich muss im Unterricht das erarbeiten, womit sie eigentlich schon fertig in den Unterricht kommen sollte. Letztendlich ist das dann auch ein recht teurer Unterricht, wenn er zu großen Teilen daraus besteht, dass ich ihr einen simplen Rhythmus erkläre oder auf die Vorzeichen hinweise etc.
Ich möchte euch Gehörslernern damit nicht die Laune verderben, aber ab einem bestimmten Niveau aufwärts steht man sich selber im Weg ohne flüssige Lesefähigkeiten. Es ist immer anstrengend, den persönlich schwierigeren Weg zu nehmen. Aber wie auch bei schielenden Kindern vorübergehend das stärkere Auge zugepflastert wird, damit das schwache Auge zum Trainieren gezwungen wird, so sollte man das Anstrengende nicht komplett vermeiden, finde ich. Vielleicht nicht die bisherige Lernmethode ändern, sondern zusätzlich sich eine regelmäßige Lerneinheit Blattspiel verordnen. Denn die lässt sich schließlich verbessern, so dass sie einem später zugute kommen kann.
Stellt euch einen Schauspieler vor, der nicht lesen kann. Geht bis zu einem gewissen Grad sicher auch, aber wenn die Texte länger werden und es nicht zufällig davon eine Aufnahme gibt? Und selbst wenn man eine Aufnahme hat, wie weiß man, welche interpretatorischen Freiheiten darin stecken, die evtl. so nicht im Text stehen?
LG, Flitzebogen
Oh Flitzebogen, ich bin zwar nicht mehr 13, aber als ich in dem Alter war, da hatte mein Geigenlehrer mit mir genau das gleiche Problem. Spätestens bei unerwarteten Modulationen haben mich die ganzen Vorzeichen aus der Bahn geworfen. Lustigerweise ergeben sich bei einem ungelesenen oder missinterpretierten Vorzeichen bald Folgefehler, welche ich dann gerne wieder geraderückte und es so auch mal schaffte, eine zwischen Dur und Moll wechselnde Etüde ab der Hälfte in Moll durchzugeigen. Auftretende Dissonanztöne wurden durch besser klingende Nachbarn ersetzt und der Kommentar lautete dann "jaja, der ___ mit seinen Kapriolen, aber immerhin, eine gewisse Musikaltiät sei ihm nicht abzusprechen".
Um es kurz zu machen: mir wurde selbst früh klar, dass der Weg in die klassische Musik verstellt ist. Und das ist auch gar nicht schlimm. Nur weil die Geige als Instrument abseits der Klassik in Deutschland ihre Tradition verloren hat, ist die Möglichkeit abseits der Klassik zu spielen ja nicht verschlossen. Es sind halt wenig ausgetretene Pfade, ein Blick über die Genregrenzen ermöglicht aber ein unfassbar großes Potential auditiv vermittelter Musik. Irische Fiddle wird NIEMALS ausnotiert, im Jazz wird auf Basis von Akkorden und diversen Skalen gearbeitet und selbst Country kann spieltechnische Anforderungen stellen, an denen sehr viele ausgebildetet Klassiker dauerhaft scheitern würden. Geige spielen ist mehr als Klassik, auch wenn wir hier in Deutschland dies oft so empfinden. Die klassische Musik ist zwar harmonisch hoch komplex und stellt auch spieltechnisch oft hohe Anforderungen, dennoch ist dies keine Grundlage, auf andere Stilistiken herabzublicken und diese als Entwicklungsziel auszuschließen.
Mir hätte es damals sehr geholfen, wenn mein Geigenlehrer auch in anderen Genres aktiv gewesen wäre. Ich weis, dass er damals gerne Jazz gehört hat und diverse H. Zacharias und Grapelli LPs hatte - der Gedanke selbst mal Schritte in die Richtung zu machen, lag ihm aber fern. "Verdirbt die Technik" war ein beliebtes Argument. Wofür es absolut keine Grundlage gibt. Ganz im Gegenteil, viel später erst habe ich begonnen, mich im Jazz zu bewegen, und niemals zuvor wurden mir meine spieltechnischen Limitierungen stärker bewusst, niemals war ich motivierter, daran zu arbeiten.
Sprich mit deiner Schülerin, welche Musik hört sie am liebsten? Welche Musik möchte sie selbst am liebsten machen? Wo leuchten die Augen? Wo brennt der Ehrgeiz? Wenn sie sich allein in die Klassik bewegt, dann zeig ihr auch mal Alternativen wie das "Turtle Island String Quartett", Dexys Midnight Runners, FarFarello, schaut gemeinsam Youtube-Videos amerikanischer Fiddle-Contests, macht einfach mal gemeinsam das Fenster auf und schaut, was da draussen noch so alles unterwegs ist.
Oder rede offen mit ihr über ihre "Leseschwäche". Kein Geiger ist "ohne Schwäche", jeder hat Ecken die leichter fallen und Abgründe, die schwer zu überwinden sind. Wenn es bei ihr einfach nur das Notenlesen ist, dann lässt sich das gezielt üben. Einfache Dinger vom Blatt, weit unter spieltechnischem Level, der Kopf braucht Zeit, die soll er haben. Und Erfolgserlebnisse, auch die müssen sein. Hol sie beim Notenlesen da ab, wo sie sich befindet und ignoriere die Differenz zur möglichen Spieltechnik.
Hallo Fiddletroll,
gut erkannt - meine Schülerin hatte zuvor Unterricht bei einer Irish-Fiddle-Spezialistin. Zwar haben sie dort auch hin und wieder in Gruppen irisch gefiddelt, aber der Einzelunterricht hatte trotz allem eher klassisch sein sollen. Die Schülerin hat auf Anraten der Lehrerin irgendwann gewechselt, weil sie eben genau in Richtung Klassik will und diese irgendwie strengere Ausbildung anstrebt.
Es ist also nicht so, dass sie Irish Folk bevorzugt, das gehörte nur zu ihrem ersten Beginn, ohne dass sie geahnt hätte, wie präzise in der Notation die Klassik eigentlich sein kann. Sie hatte da einfach noch viel zu entdecken. Die Eltern sind in dem Fall keine Hilfe, wollen die Tochter unterstützen, haben aber einfach keine Ahnung von jedweder Musik. Was sie sich erarbeitet, macht sie also ganz alleine bzw. nur mit meiner wöchentlichen Unterstützung.
Aber sie ist hochmotiviert und kommt voran. Ich sehe bei ihr keinen Grund, diesen Weg jetzt wieder abzubrechen. Wenn sie irgendwann keinen Sinn mehr drin sieht, dann kann sie sich wieder weg von der Klassik begeben und den Lehrer entsprechend wieder wchseln. Aber wie ich es sehe, haben wir noch das eine oder andere gemeinsame Jahr vor uns.
Leichte Stücke vom Blatt - genau so und ähnlich habe ich ihr schon Aufgaben gestellt. Oder eben ein kurzes Stück selbstständig in einer Woche erarbeiten. Was ich auch demnächst einmal vorhabe, ist, sie vom Hören her bekannte Lieder selber in Tonart X aufschreiben zu lassen. Es ist immer gut, so etwas irgendwie als Hausaufgabe zu konzipieren. Denn erstens übt sie dann auch außerhalb des Unterrichts an dem Thema, und außerdem wird ein Teil der dafür nötigen Zeit aus dem Unterricht ausgelagert. Sonst könnte man locker einen reinen Theoreiunterricht draus machen. Schade, dass die örtliche Musikschule keinen Theorieunterricht anbietet - erst im Rahmen der studienvorbereitenden Ausbildung, und dann hätte sie ja dort auch Geigenunterricht, sozusagen nur als Gesamtpaket.
Wenn es einfach für jeden Interessierten Theorieunterricht gäbe, ware das für viele Schüler toll. Und von Theorie einfach nur solide Ahnung zu haben, macht einem letztendlich keinerlei Musikstil kaputt, dem man sich dann früher oder später zuwendet.
LG Flitzebogen
Lesen lernen durch Schreiben - guter Ansatz.
Ich bin für mich immer gut gefahren, komplexe Dinge in Einzelbestandteile zu zerlegen und diese auch einzeln zu trainieren. Notenlesen besteht aus dem Erkennen der Rhytmik sowie aus dem Erkennen der Tonhöhen (+ Lautstärke, Phrasierung, Bogenführung, Fingersätze...ja).
In Sachen "Notenlänge" = Rhytmik würde ich mal zu den Schlagzeugern rüberschauen: die zerlegen Vieles in "Pattern", also immer wieder vorkommende Muster. Ist so ein Muster identifiziert, dann muss deine Schülerin nicht mehr jede Note einzeln auszählen, sondern kann in dieses Muster die jeweiligen Tonhöhen "eintragen". Sprache lesen geht ja ähnlich, aus Buchstaben werden Silben, aus Silben werden Worte. Leseanfänger arbeiten mit Buchstaben, Vielleser erfassen mehrere Worte mit einem Blick. Übung dazu: Takte in Muster zerlegen, Tonhöhen nicht beachten, Noten schnipsen, klatschen, choppen, Schlagzeug spielen. Am besten echt ohne Geige.
Für Tonhöhen und das ganze Durcheinander von Vorzeichen (was soll denn der Hashtag da?) ist es vielleicht mit Theorie und Harmonielehre einfacher, das ist auch ein guter Ansatz!
Ihr Lieben!
Vielen Dank für eure Rückmeldungen.
Puh, ein bekanntes Stück vom Hören her in einer anderen Tonart aufzuschreiben, da könnte ich gar nichts mit anfangen....
Klar, kann ich Noten u. Vorzeichen (marginal) lesen, aber letztlich ist für mich das klangliche "Grundmuster" eines Stückes entscheidend. Ich bin Synästhetikerin und vermutlich auch Absoluthörer (meine Mutter ist es, könnte ich geerbt haben). Für mich persönlich ist der Ausdruck, die "Seele" eines Stückes entscheidender als jegliche Theorie. Ich erspüre, ob sich eine Tonfolge "korrekt" anfühlt, so stelle ich auch gewisse Sequenzen in Frage: Wieso hat sich Corelli an dieser Stelle ausgerechnet für diesen Ton entschieden?
Das macht mir persönlich mehr Spaß als "trockene" Theorie. Wie oben erwähnt, ist die Analogie zur Sprache wunderbar. Auch eine Sprache lässt sich durchaus ohne Grammatik etc. lernen, warum der Weg in die Klassik auf diese Weise aber verstellt ist, leuchtet mir nicht zwingend ein.......
Dass man eine Sprache auch Grammatik lernen könne, stimmt so nicht. Man muss die Grammatik schon beherrschen, denn wenn man planlos Worte anneinanderreiht, geht schnell der Sinn verloren. Korrekt angewendete Grammatik ist, was den Unterschied zwischen "fürchterlich essen ich gestern später muscheln hatte kotzen ich müssen" und "Ich hatte gestern Muscheln gegessen und musste später fürchterlich kotzen". Das Beherrschen der Grammatik ist zum Anwenden von Sprache unbedingt erforderlich. Was nicht unbedingt erforderlich ist, ist die Fähigkeit, über Grammatik zu reden. Wenn man den Unterschied zwischen "ging", "war gegangen" versteht, muss man nicht unbedingt wissen, dass das eine Präteritum und das andere Plusquamperfekt heißt. Wenn das Wissen um den Unterschied von einem Menschen an einen anderen weitergegeben werden soll, muss man ihn verbalisieren, und das geht nicht ohne den Dingen einen Namen zu geben - also zu vermitteln, was Präteritum und Plusquamperfekt sind.
Bei der Musik ist es genauso: Da, wo man mit intuitivem Verständnis nicht mehr weiter kommt, ist man auf das Vokabular der Musiktheorie angewiesen, damit andere einem helfen können, das eigene Verständnis zu erweitertern und zu vertiefen.
Hi Fiorella,
dein Empfinden der Musik kann ich gut nachempfinden, bis auf die Synästetik sind wir auf dem gleichen Gleis unterwegs.
"Die Klassik" ist ja ein weites Feld, aber dieses wird halt von studierten Musikern bestellt, sofern du davon leben möchtest. Um Geige zu studieren musst du die Aufnahmeprüfung packen, der geforderte Level ist inzwischen abartig hoch, allerdings kann man sich da noch in Ruhe vorbereiten. Im Studium wird auch massiv Repertoire aufgebaut, das Pensum ist ohne flüssiges vom-Blatt-Spiel kaum zu schaffen. Auch später wird es immer wieder Momente geben, in denen man als Aushilfe gebucht wird und ohne Vorbereitungszeit auf der Bühne schwitzt. Das alles ist für "visuelle Lerntypen" erheblich leichter.
Natürlich hat aber ein jeder sein eigenes Paket an Stärken und Schwächen und "Notenleseschwäche" ist durchaus etwas, was sich wegüben lässt. Wir Ohrenmenschen haben es dafür an anderen Stellen viel leichter, sind im Zusammenspiel mit anderen Musikern aktiver, Improvisation entwickelt sich flüssig aus sich selbst heraus und neben dem Ohr für das eigene Instrument gibt es auch noch ein Ohr für das große Ganze. Allerdings sind das alles Kompetenzen, die in der Klassik nicht die höchste Priorität haben.
Hallo noch einmal,
ich kann nur für den klassischen Bereich sprechen. Da ist die Musik ab einem gewissen Level zu kompliziert und detailreich, um alles rein vom Gehör her zu lernen. Zumal es auch nicht unbedingt Aufnahmen von allen Stücken in gleichmäßiger Qualität gibt.
Wenn man z.B. die Bach-Solo-Werke nimmt, so sind ja viele Sätze mehrstimmig. Erst durch das Lesen kann man z.B. den eindeutigen Verlauf aller Stimmen überhaupt begreifen. Vieles ist auf der Geige gleichzeitig gar nicht umzusetzen. Auch die besten Geiger müssen zunächst die Noten interpretieren, um für sich zu entscheiden, welche Stimmen sie wann in den Vordergrund stellen. Denn man kann schlichtweg nicht vierstimmig gleichzeitig spielen. Jegliche Ausführung ist automatisch also eine Interpretation des Textes. Einige brechen die Akkorde immer von unten nach oben, andere wechseln, dann wieder hört man plötzlich jemanden, der irgendeine Mittelstimme herausarbeitet - es gibt so viele Möglichkeiten, und jede Aufnahme bietet nur eine davon.
Ich kann mir nicht vorstellen, solche und ähnliche Stücke wirklich präzise und auf professionellem Niveau ohne Notenkenntnisse lernen zu können. Hier liegt auch wirklich die Betonung auf dem professionellem Niveau. Das muss natürlich nicht für jeden interessant sein, aber bei einem durchaus begabten und motivierten Schüler ist es m.E. für den Lehrer eine Pflicht, einer möglichen späteren Profikarriere nicht im Wege zu stehen und den Schüler auch auf für ihn unbequemere Aspekte hinzuweisen.
Die Lesekenntnisse erweitern sich übrigens noch weit über das Studium hinaus. Nach über zehn Jahren Orchesterdienst habe ich mittlerweile Blattlesekompetenzen, die ich am Ende des Studiums nicht für möglich gehalten hätte. Ich habe zu Beginn wirklich immer alle Noten vorbereitet vor jedem Dienst, das ist mittlerweile nicht mehr so oft nötig. Ich spiele nicht ungenauer als früher, aber generelles Fithalten auf dem Instrument ist oft wichtiger als konkrete Stücke zu üben.
Jede Woche mindestens ein neues Konzertprogramm, da ist Blattlesen eine angenehme Fähigkeit. Aber auch ohne diese: Das Lesen der Noten ist zwingend erforderlich. Wie kannst du vor allem eine zweite Geigenstimme einer Sinfonie aus dem ganzen Wust einer Aufnahme heraushören? Je ausgeglichener die Aufnahme, desto weniger wirst du unterscheiden, ob du nun gerade wirklich der zweiten Geige folgst oder nicht versehentlich die erste Geige oder sogar zwischendurch einen Teil der Bratschenstimme hörst?
Das Genie möchte ich sehen, dass das alles regelmäßig leistet, sämtliches Repertoire dann auch noch auswendig spielt und trotzdem keine Noten lesen kann. Das wäre doch so eine merkwürdige Verteilung von Fähigkeiten, dass es die wahrscheinlich kaum gibt.
Nächste Woche spielen wir u.a. ein zeitgenössisches Werk, zu dem ich mich auch zwecks beschleunigten Lernens bei Youtube umgeschaut habe. Es gibt dort keine Aufnahme. Also bleibt mir nichts übrig, als die Noten durchzuackern. Ich kann das nicht einen Kollegen für mich vorbereiten lassen, der es mir dann so oft vorspielt, bis auch ich es drauf habe.
Aber wenn man ohne Zeitvorgaben hauptsächlich für sich allein Musik machen möchte, so sind dem Vergnügen jeglicher Lernform natürlich keine Grenzen gesetzt. Immerhin gibt es ja eine quasi unendliche Literatur, und dort kann man immer etwas finden, das man nach Gehör lernt. Und genau dort sollte man dann auch die Grenzen zwischen "Klassik" oder "Folk" oder was auch immer getrost beiseite lassen. Ein Erwachsener hat die Wahl und die Verantwortung für seine eigene Entwicklung. Ein Schüler kann letztere nicht alleine tragen.
LG, Flitzebogen
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