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Auf 432 Hz stimmen wegen Klavier?

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Jelena88 Profilseite von Jelena88, 02.06.2021, 21:05:50
Auf 432 Hz stimmen wegen Klavier?

Hallo liebe Musikerfreunde,

Heute hab ich mal wieder einiges dazugelernt.

Nach meiner Bitte, gemeinsam mit meiner Schwester musizieren zu können, wurde heute unser Klavier gestimmt. Da mir aufgefallen war, dass es nicht mit meiner auf 440 hz gestimmten Geige harmoniert.

Lange rede kurzer Sinn, ich war nicht dabei und das Klavier ist auf 432 Hz gestimmt. 

Mir war nicht bewusst, dass das so gehandhabt wird. Ich dachte die vorherige Disharmonie resultiert aus einer schlichten Verstimmung des Klaviers.

 

Ich spiele im Moment nur für mich Geige, bin weder in Orchester noch Ensemble.

Macht es Sinn, dass ich mich einfach auf eine Stimmung von 432 Hz einstelle?

 

Ich hab es bereits kurz ausprobiert und es ist erstmal sehr ungewohnt. Hat jmd Erfahrungen, vllt in Bezug auf eine sich verschlechternde Intonation oder den Zustand des Instrumentes? 

 

Vielen Dank für Antworten !

Schweizerin Profilseite von Schweizerin, 03.06.2021, 00:07:34

Hallo Jelena88

ui, das habe ich noch nie erlebt , dass ein KLavier auf 432Hz gestimmt ist. Das ist eine historische Stimmung und ich würde meine Geige NIE freiwillig so stimmen. Saiten lieben das  hinauf und herunterstimmen von 442-432-442 nicht sehr, das  Instrument leidet und das Gehör rebelliert doch auch ;-) .

Für den Hausgebrauch werden immer 440Hz favorisiert. Für das gemeinsame musizieren mit Streichinstrumenten wird eine Stimmung mit 442 Hz auf den Flügel / Klavier angebracht. Die Konzertstimmung ist mit 442 Hz bis 444 Hz die höchste Stimmvariante.

Ich würde den Klavierstimmer fragen, ob er die Stimmung korrigieren kann.  . 

Hoffe ihr findet eine Lösung um unbeschwert gemeinsam musizieren zu können.

Grüsse aus dem Süden

 

PS via Google "Klavierstimmung 432Hz"  findest du übrigens hierzu viele interessante Beiträge!

 

 

 

 

Stehgeiger Profilseite von Stehgeiger, 03.06.2021, 19:22:40

Hallo Jelena88,


läßt Du dein Klavier ohne weitere Maßnahmen von a¹ = 432 Hz auf a¹ = 440 Hz hochstimmen, so muß die Zugspannung jeder Saite um 3,74% erhöht werden. Um den gleichen Prozentsatz erhöht sich auch die Gesamtsaitenspannung des Instruments, die je nach Saitenlänge und Art der Besaitung der Gewichtskraft einer Masse zwischen 3500 kg bis zu 20000 kg entspricht. Die Änderung der Gesamtsaitenspannung durch das oben beschriebene Hochstimmen liegt daher zwischen minimal 131 kg bis maximal 750 kg. Die daraus folgende höhere Belastung des Resonzbodens des Instruments führt zu einer deutlichen Veränderung des Klangs. Da der Resonanzboden unter dieser Mehrbelastung nachgibt und durch die höhere Belastung "schneller altert" und an Spannung verliert, wird sich der Klang des Instruments mittelfristig (d.h. nach ein paar Jahren) verschlechtern. Diese Verschlechterung ist nicht reversibel, d.h. sie kann nicht ohne großen Aufwand (Restauration oder Erneuerung des Resonanzbodens) rückgängig gemacht werden.


Damit Du verstehst was ich oben schrieb und warum der Klavierstimmer Dein Instrument nicht auf a¹ = 440 Hz gestimmt hat, gebe ich einen ganz kurzen technischen Einblick in den Klavierbau und eine ebenso kurze Übersicht über die Entwicklung der Stimmung für den Kammerton a¹.


Bei der Entwicklung eines neuen Klavier- oder Flügelmodells muß der Klavierbauer vorab sorgfältige statische Berechnungen über die Tragfähigkeit und Belastbarkeit der einzelnen Bauteile anstellen, welche die Saitenspannung tragen. Diese Berechnungen und Vorüberlegungen nennt man die "Auslegung" des Instruments (Im kleineren Maßstab muß das auch ein Geigenbauer tun.) Diese Auslegung wird für eine bestimmte Stimmung durchgeführt, also für eine bestimmte Frequenz von a¹. Die Wölbung des Resonanzbodens wird für die sich aus dieser Stimmung ergebende Saitenspannung optimiert. Auch Regulation und Intonation werden bei dieser Stimmung optimal eingestellt. Verändert man diese Stimmung/Saitenspannung wesentlich um mehrere Prozentpunkte, dann sind diese Einstellungen nicht mehr optimal, der Klang verschlechtert sich. Bei einer Erhöhung der Saitenspannung führt die Mehrbelastung zusätzlich zu einer schnelleren Alterung/Materialermüdung der spannungstragenden Bauteile.


Bezüglich der Stimmung muß man wissen, daß die international gültige Übereinkunft, den Kammerton auf a¹ = 440 Hz zu setzen, erst 1939 getroffen wurde. Vor 1939 gab es außer der auf Frankreich beschränkten <diapasson normal> mit a¹ = 435 Hz keine weiteren nennenswerten nationalen oder internationalen Festlegungen für die Frequenz des Kammertones a¹. D.h. jedes Opernensemble, jedes Symphonieorchester hat die Frequenz seines Kammertons a¹ selbst festgelegt. Diese Festlegungen lagen bis auf wenige Ausnahmen in den Jahrhunderten vor 1939 bei a¹ = 435 Hz oder darunter. Die lokalen Instrumentenbauer die ihre Instrumente an diese Ensembles und deren Mitglieder verkaufen wollten, haben sich bei der Auslegung ihrer Instrumente an deren Festlegungen orientiert. Daher sind Tasteninstrumente (und auch Streichinstrumente) aus der Zeit vor 1939 in ihrer Auslegung auf Stimmungen für a¹ = 435 Hz und darunter optimiert. Deshalb ist es bei Tasteninstrumenten aus dieser Zeit meist nicht zu empfehlen ohne weitere Änderungen am Instrument die Stimmung auf a¹ = 440 Hz anzuheben. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Anpassung der spannungstragenden Teile des Instruments an die höhere Stimmung mehrere Jahre dauert. Innerhalb dieser Zeit wird sich das Instrument nach jeder neuen Stimmung wieder sehr schnell verstimmen, so daß man in dieser Zeit kaum in den Genuß eines für einen längeren Zeitraum gut gestimmten Instruments kommt. Dazu kommt die stetig anhaltende Veränderung des Klanges durch das langsame Durchsacken des Resonanzbodens....


Zurück zu Deinem Instrument und Deinem Klavierstimmer. Die Klavierbauer und guten Klavierstimmer wissen um die oben geschilderte Problematik. Bei Instrumenten in Privathaushalten die vor 1939 gebaut wurden, belassen sie die Stimmung daher auf dem historischen Wert, um den Klang des Instruments und das Instrument selbst möglichst lange in gutem Zustand zu erhalten und um umfangreiche teuere Reparaturen so lange wie möglich nicht notwendig zu machen. Wer mit diesen historischen Stimmungen nicht zurecht kommt, weil er ein absolutes Gehör besitzt, muß sein altes Instrument umbauen lassen oder sich ein Nachkriegsinstrument kaufen. Die Chancen stehen also gut, daß Dein Instrument vor 1939 gebaut wurde. Das ist deshalb so erfreulich, weil der Klang der vor 1939 gebauten Instrument von vielen als angenehmer und besser empfunden wird. Daher sind einigermaßen erhaltene Instrumente aus dieser Zeit vorallem im asiatischen Ausland bei Privatleuten extrem nachgefragt und werden Lastwagenladungenweise dorthin exportiert. Sollte Dein Instrument doch ein Nachkriegsinstrument sein, so kann die Stimmung auf a¹=432 ihre Ursache in einem Schaden des Instruments haben (Riß im Resonanzboden oder im Gußrahmen, defekte Wirbel), der es unmöglich macht das Instrument höher zu stimmen. Besprich das doch einfach mal mit Deinem Klavierstimmer, wenn er das nächste Mal zum Stimmen kommt.


Das Resumée dieser langen Vorrede ist also:
laß die Stimmung Deines Klaviers da wo sie ist - es sei denn, Du hast genügend überflüssige Kohle um sie für Umbauten und Reparaturen des Instruments auszugeben. Und ja, es ist sinnvoll stattdessen Deine Violine auf a¹=432 Hz zu stimmen. Wenn Du ohnehin nicht mit anderen zusammenspielst, regelmäßig zum Unterricht gehst und/oder nicht über ein absolutes Gehör verfügen solltest, gibt es nichts was dagegen spricht. Da sich beim Herunterstimmen die Zugspannung der Saiten verringert, ist das für das Instrument völlig unschädlich. Ist die Violine ebenfalls vor 1939 gebaut, so wurde sie ohnehin für eine tiefere Stimmung ausgelegt, wie ich es oben beschrieben habe. In diesem Fall ist es sogar möglich, daß die Violine unter der geringeren Spannung offener, freier klingt und einen deutlich breiteren Dynamikbereich hat. Manchmal gewinnt man durch eine Veränderung auch einen Vorteil.  Durch Verwendung von Saiten mit anderen physikalischen Parametern kann man unter Beibehaltung der Stimmung auf a¹=432 Hz den vorherigen Klang auch wieder erreichen, wenn man das möchte.


Die Bedenken der Schweizerin kann ich aus eigener Erfahrung nicht teilen. Bei einer Stimmung von a¹=440 Hz liegt der nächste Halbton unter a¹, also das as¹ bei 415 Hz. Du mußt also um deutlich weniger als einen Halbton herunterstimmen. Bei einem "normalen" reibungsgehemmten Violinwirbel ist das kaum mehr als ein "Tick" nach unten. Das ist auch für die Saiten kein Problem.
Im Orchester wird üblicherweise nach der Oboe gestimmt, da diese das Instrument ist, dessen Stimmung sich am wenigsten verändern läßt. Je nachdem welcher Oboist kommt und welches seiner Instrumente er mitbringt, müssen die Streicher mit ihrer Stimmung rauf oder runter. Das wurde bislang von niemanden als problematisch angesehen.


Ich hoffe ich konnte Dir die Zusammenhänge für Dein Problem verständlich machen und nun kannst Du dich sachgerecht für eine praktikable Lösung entscheiden. Wenn nicht, frag hier nochmal nach.


Daß das mit soviel Text verbunden war, tut mir leid, es ließ sich nicht vermeiden. Ansonsten hoffe ich geholfen zu haben.
 

CelloMania Profilseite von CelloMania, 04.06.2021, 02:26:40
Hallo Stehgeiger,

Ein substantieller und notwendiger Beitrag. Well Done!

Hajo
Neuester Beitrag Medjool Profilseite von Medjool, 20.08.2021, 23:38:25

Hallo Stehgeiger,

vielen Dank für diesen enorm wichtigen und sehr interessanten Beitrag! Ich werde es im Kopf behalten, wenn ich in Versuchung kommen sollte, mich über die "komische" Stimmung mancher Klaviere aufzuregen.

LG

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