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Im Focus: Werk oder Virtuose

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Bea Profilseite von Bea, 31.10.2011, 11:30:28
Im Focus: Werk oder Virtuose

 Ein interessanter Aspekt des Musikkonsums ist, ob eher der Virtuose, also der Interpret oder das Werk an sich im Mittelpunkt stehen sollte - das gilt für Aufführungen, aber für das persönliche, unprofessionelle Hobbyspiel zu Hause.

Zum Einstieg in dieses Thema ist folgender Schüleraufsatz sehr interessant: am Beispiel von Paganinis 24. Caprice werden die Virtuosen Paganini und Liszt in ihrer Publikumswirkung beschrieben, ihr Werk untersucht und zeitgenössische Kritik dazu angeführt. Eigentlich geht es auch um die Frage, ist es richtig, dass das Massenpublikum den Virtuosen "anhimmelt", das Werk selber aber eher in den Hintergrund tritt. Schuhmann wird als Gegenprotagonist aufgebaut, der eben Werke um ihrer selbst willen genossen sehen will, und meint, zu virtuoses Spiel würde von der eigentlichen Schönheit der Musik ablenken.

Die Arbeit ist eine kurzer Schulaufsatz von knapp 12 Seiten:

http://www.hausarbeiten.de/faecher/vorschau/106160.html#inside

Aranton Profilseite von Aranton, 31.10.2011, 21:17:26

Um zu verstehen, worum es dabei eigentlich geht, muss man erst klären, was mit "virtuosem Spiel" eigentlich gemeint ist. Bis ins 19. Jahrhundert war es durchaus noch üblich, dass Solisten die vorgegebenen Noten eher als unverbindlichen Vorschlag gesehen haben. Um mit ihren technischen Fähigkeiten brillieren zu können, wurden Verzierungen eingebaut, teilweise ganze Passagen total verändert oder eingefügt. Einfach um ihr Ego zu befriedigen Paganini soll bei Konzerten gelegentlich absichtlich Saiten zerrissen haben, um damit es hinterher bewundernd hieß: "Der große Maestro hat das Konzert bis zum Schluss ohne Unterbrechung gespielt, obwohl nicht nur eine sondern gleich drei Saiten ihm den Dienst versagt haben." Solche Taschenspielertricks müssen meiner Meinung nach wirklich nicht sein. Wenn ein Schuhmann sich als Komponist gegen "virtuoses Spiel" ausspricht heißt das überspitzt: "Wenn ich gewollt hätte, dass da ein Triller gespielt wird, hätte ich einen hingeschrieben."

Im Prinzip ging es damals nicht darum, wer im Vordergrund stehen sollte, sondern wer bestimmt, was eigentlich bei der Aufführung passiert. Heute steht im Klassikbetrieb im Froßen und Ganzen doch die Werktreue im Vordergrund, so dass Solisten im Vergleich zu früher kaum mehr als ausführende Organe sind. Aber die technischen Anforderungen sind seit 17. Jahrhundert auch enorm gestiegen. Es gibt genug Stücke, die man nur spielen kann, wenn man die Geige wirklich virtuos beherrscht; auch ohne dass man zusätzliche Verzierungen einbauen muss. Virtuosen die diese technischen Voraussetzungen wirklich erfüllen, sind die crème de la crème de la crème unter den Geigern. Mit genug Übungsaufwand kann jeder ein passabler bis guter Geiger werden; aber zum wirklich virtuosen Spitzengeiger kann man nicht durch Übung allein werden, dazu muss man geboren sein.

Vor diesem Hintergrund denke ich, dass Hobbygeiger, die glauben das Thema Werk vs. Virtuose, sei für sie relevant, entweder ganz schnell ihr Hobby zum Beruf machen sollten oder sich noch viel schneller Medikamente gegen Wahnverstellungen verschreiben lassen sollten. Ein Hobbygeiger kann einfach nicht auf dem selben Niveau spielen, wie jemand, der jeden Tag acht bis zehn Stunden Zeit zum Üben einplanen kann.

Bea Profilseite von Bea, 01.11.2011, 10:08:25

 Aranton schreibt:

Heute steht im Klassikbetrieb im Froßen und Ganzen doch die Werktreue im Vordergrund, so dass Solisten im Vergleich zu früher kaum mehr als ausführende Organe sind.

Das kann man eben auch anders sehen, indem ein Werk immer werkgetreuer gemäß der Musikforschung aufgeführt wird, gerät die Einmaligkeit jeder Aufführung und jeder Einstudierung ins Abseits und irgendwann würde es keiner neuerlichen Einstudierung bedürfen, da ja immer das Gleiche herausbekommt. Das wären aber langweilige Aussichten, und ich glaube Musiker, insbesondere Dirigenten und Solisten verstehen sich ja gerade als Künstler, in deren Händen die Bearbeitung eines bestimmten Werkes ja eine ganz individuelle Note bekommt, würden da auf die Dauer nicht mitmachen.

Das ein zeitgenössischer Komponist darüber wacht, dass sein Stück nur so aufgeführt wird, wie er will gibt es, aber ich habe von vielen Komponisten gelesen, sie seien darauf gespannt, was alles aus ihrem gelieferten Werk herauszuinterpretieren ist. Und ich glaube wie in der Literatur, sobald ein Werk veröffentlicht ist, geht es seine eigenen Wege, denn wie ein Leser das Werk der Komponisten aufnimmt, kann der Komponist nicht beeinflussen, er kann Wegzeichen setzen, aber ob diese befolgt werden, kann er nicht mehr bestimmen.

Aranton schreibt:

...dass Hobbygeiger, die glauben das Thema Werk vs. Virtuose, sei für sie relevant, entweder ganz schnell ihr Hobby zum Beruf machen sollten oder sich noch viel schneller Medikamente gegen Wahnverstellungen verschreiben lassen sollten.

Es kommt darauf, was man als Virtuose versteht, Virtuose im Sinne von eigenmächtiger Bearbeiter eines Werkes, wo man seine persönlichen Stärken einbaut, (und die Schwächen kaschiert), oder einfach seine Sichtweise und seine persönliche Lust mit dem Werk ausdrückt. Dabei kommt es hinsichtlich des Hobbygeigers weniger auf seine Qualitäten als Geiger an, denke ich mal, er könnte das Stück ja auch sich leichter machen, oder nur die Passagen auswählen die ihm Spaß machen und so spielen wie er will.

Ein andere Sache ist der Künstler, der sein Brot mit seiner Kunst verdient, für den das virtuos sein essentiell ist, um sich auch von anderen zu unterscheiden. Man denke nur an Kopatchinskaja , sie wird bejubelt und verschmäht, je nach Einstellung des  Kritikers/Publikums.

Auf der andern Seite kommen die Künstler, die etwas neu aufnehmen, aber doch ganz brav in der üblichen Interpretation bleiben, auch Kritik zu spüren, Beispiel wäre Mutter.

Im oben angegebenen Link kommt der Schüler übrigens zu dem Resumee, Musiker seien auch vom Geschäftstum und persönlichen Eitelkeiten nicht ausgenommen und meint damit, dass die Musik an sich missbraucht wird.(vom mir jetzt sehr frei  interpretiert - Wortlaut im Link nachlesen)

Ich finde, dass das eine ziemlich drastische Sicht ist, und den Menschen als Interpretierer der Musik völlig ignoriert.

 

...

Geige Profilseite von Geige, 01.11.2011, 12:31:26

 Gerade das Herausfinden als Musiker, wovon sich ein Komponist in seinem Werk hat inspirieren lassen, ist sehr spannend. Da gibt es Werke, die einen an Landschaftsmalerei erinnern oder z.B. eine innige Stimmung zum Ausdruck bringen usw. 

Gerade dieses Aufgreifen des Gedanken eines Komponisten stellt der Interpret den eigenen Empfindungen gegenüber und so entstehen - trotz gleichen Werkes- immer eine individuelle Neuschöpfungen des Musikers.

Die früher hinzugefügte Verzierung unterlag auch bestimmten Regeln. Im Musikstudium gibt es das Fach Ornamentik, in dem sich ausführlich darüber ausgelassen wird.

 

Neuester Beitrag Aranton Profilseite von Aranton, 01.11.2011, 19:45:01

<p>DerDuden definiert das Wort "Virtuose" wie folgt: Virtuose: Jemand, der eine [künstlerlische] Technik mit vollkommener Meisterschaft beherrscht. Von daher bleibe ich bei der Aussage, dass das Thema "Werk vs. Virtuose" für Hobbygeiger nicht relevant ist. Jemand, der einen komplizierten Dreiklang am Schluss eines Stückes streicht und lieber nur den Grundton spielt, weil es einfacher ist, oder das Tempo halbiert, weil ihm das eigentliche Tempo zu schnell ist kein Virtuose. So jemand schafft auch nicht wirklich etwas Neues und einzigartiges; aber der ursprüngliche Charakter des Stückes wird trotzdem verfälscht. </p>
<p>Auch jemand, der ein Stück das ursprünglich für Geige und Orchester gedacht war, umarrangiert, so dass man nur ein einzelnes Pianoforte als Begleitung braucht, ist auch nicht gleich ein Virtuose. Obwohl er dazu natürlich einigermaßen Klavierspielen können muss und auch vom Komponieren etwas verstehen sollte, ist das musikalisches Handwerk und keine Virtuosität. Außerdem geht dabei ja gerade darum, den ursprünglichen Charakter aufrecht zu erhalten, obwohl die MIttel stark eingeschränkt und reduziert werden.</p>
<p>Die Werktreue ist natürlich prinzipiell begrenzt, weil die Möglichkeiten der Notenschrift begrenzt sind und es immer Spielraum gibt. Wenn keine Schlagzahlen dastehen, hat man beim Tempo Spielraum. Auch die Grenzen zwischen forte und fortissmo sind fließen und ob bzw. in welchem Maße vibriert werden soll, steht auch so gut wie nie da. Und Phrasen wie "doux avec suavité" erst recht Interpretationsspielraum. Von daher werden unterschiedliche Interpreten die Stücke immer unterschiedlich spielen. Allerdings sind dem durch den Notentext aber auch durch die Tatsache, dass man mit anderen zusammenarbeiten muss, Grenzen gesetzt. Je mehr Leute an einer Aufführung/Aufnahme beteiligt sind, um so mehr müssen mittragen, was der Dirigent und gegebenenfalls der Solist beschließen. Und schließlich müssen auch die Erwartungen des Publikums in Betracht gezogen werden. Das war vor hundert, hunderfünfzig Jahren noch kein großes Thema. Da es keine Möglichkeit gab, gespielte Musik zu konservieren, hat das breite Publikum die meisten Stücke, ein, zwei vielleicht drei Mal im Leben gehört und das immer von denselben Künstlern aufgeführt. Heute hat das Publikum CD-Spieler und hat Erwartungen noch bevor der erste Ton erklungen ist. Wenn jetzt das Orchster eines Stadttheaters - sagen wir Beethovens Violinkonzert aufführt - steht es in direktem Wettbewerb mit den großen Philharmonien in Berlin oder Wien. Und der Solist, der sonst die meiste Zeit im Tutti untergeht, muss gegen Weltstars angeigen; nicht nur die aktuellen, sondern gegen alle, von denen es technisch brauchbare Aufnahmen gibt. Ich habe das Publikum klassischer Musik immer recht konservativ erlebt. Deshalb besteht, für kleinere Ensembles und unbekannte Solisten die Gefahr, dass ihre Versuche, ein Werk "neu zu interpretieren" hinterher als "Fehler abgetan werden; auch wenn es nur eigentlich nur um kleine Abweichungen von den verbreiteten "Standard"-Aufnahmen eines Stückes geht. Die Anzahl jener, die unter diesen Umständen tatsächlich noch so interpretieren können und vor allem dürfen, dass "ihre" Aufführung von xy etwas besonderes ist, ist verschwinden gering. Aber es gibt natürlich auch eine Gegenströmung, die das klassische Repertoire zum Teil auf elektrische Instrumente bringen mit Beatz unterlegen und in das Gewand moderner, Pop-, Rock- oder Metalmusik gezwängt werden. Aber ist das, was David Garret auf 3:34 eingedampft (bzw. hat eindampfen lassen) und "The 5th" nennt, überhaupt noch Beethoven?</p>
<p>Aber es gibt diesen Konservatismus auch auf der Künstlerseite. Es gibt eine überraschend breite Strömung, die sich historisch informierter Aufführungspraxis widmet. Diesen Musikern geht es nicht darum, Vivaldi, Bach oder Mozart neu zu entdecken und zeitgemäß zu inszenieren, sondern darum zu rekonstruieren, wie sie damals"wirklich" geklungen haben (obwohl sich das niemals wird rekonstruieren lassen.)</p>

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