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Autodidakten-Bashing

> Wie gut nach 9 Jahren?

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Aranton Profilseite von Aranton, 22.08.2014, 12:26:39

Naja,

genauso legitim könnte man Foren und How-to-Videos als eine Form von Unterricht werten und argumentieren, dass jemand der solche Informationsquellen nutzt, aufhört, Auto-Didakt zu sein. Generell ist es in der Zeit neuer Medien schwierig geworden, Unterricht von Autodidaktentum zu unterscheiden. Ein gut gemachtes How-To-Video (mit Hinweisen wie "achte auf dieses..." oder "wenn das passiet, hast du jenen Fehler gemacht") fühlt sich viel mehr nach Unterricht an als z.B. eine Vorlesung. Aber wer sich das Video anschaut, gilt als Autodidakt, wer die Vorlesung besucht als Schüler - auch wenn sich beides in Sachen Interaktivität und persönlicher Beziehung zwischen Informationsgeber und Informationsempfänger nicht viel gibt (wobei; bei Dozenten gibt es weder eine Rückspulfunktion noch einen Pausenknopf...). Aber spätestens, wenn man einen Lehrer als Wissensquelle heranzieht, hört meiner Ansicht nach das Autodidakten auf.

Beim Geigespielen ist - vor allem für Anfänger - das Feedback sehr viel wichtiger als z.B. bei einer Statistikvorlesung. Zum Teil kann man sich das Feedback durch eine realistische Selbsteinschätzungen selbst geben, aber das stößt an Grenzen. Vor allem am Anfang ist es sehr schwer selbst zu beurteilen, ob man eine in einem Buch oder Forum beschriebene Technik richtig umsetzt oder nicht.

Fiedelmax Profilseite von , 22.08.2014, 16:43:10

Genau, wie definiert man einen Autodidakten? (Damit meine ich nicht, wie er bei Wikipedia definiert wird). Ich z.B. habe im Kindes bzw. Jugendalter  5 Jahre Untericht genossen, dann "ewig" nicht gespielt und erst später wieder angefangen. Ich musste mir sehr viel wieder selber beibringen, da ein großer Teil des früher Gelernten weg war. Also, bin auch ich Autodidakt? Ich denke schon, wenn auch mit Abstrichen. Ich meine, es ist einfach eine Sache von Toleranz, wie man gegenseitig damit umgehen sollte und es gibt in jeder Fraktion Gute und Schlechte (Autodidakten und "Gelernte Geiger"). In diesem Sinne...

LG

Sysopa Profilseite von Sysopa, 22.08.2014, 21:22:13

Das ist doch mal ein schönes Schlusswort!

 

Anfenger Profilseite von Anfenger, 02.09.2014, 12:14:49

Auch wenn der Thread schon alt ist, bleibt das Thema immer jung. Ich hatte bei meinem Wiederanfang vor 3 Jahren erst einmal alleine nach der Doflein-Schule dort angesetzt, wo ich damals nach nur 1 Jahr aufgehört hatte und mir die nächsten Griffarten nach Literatur und Internet-Empfehlungen selbst beigebracht. Es war mir zu diesem Zeitpunkt wichtig, alleine mit dem Instrument zu sein. Allerdings war ein regelmäßiger Unterricht schon mein Ziel. Auch wenn das einige Monate geklappt hat, ist es doch meine Erfahrung, dass kaum etwas so ungeeignet für Autodidaktik ist wie das Geige-Spielen. Für Studium, Fremdsprachen, Handwerk usw. hat man klare Kriterien, die zeigen, wo man gerade steht und was vertieft werden sollte. Beim Geige-Spielen fiel es mir enorm schwer zu entscheiden, ob ich jetzt das nächste Stück beginnen soll oder das alte 2 weitere Wochen üben. Soll ich mich mehr mit der Bogentechnik oder intensiver mit der Intonation beschäftigen? Dann kommen elementare Probleme mit dem Fingersatz bei den ersten komplexeren Stücken. Mit welchem Finger soll ich denn diesen Ton jetzt eigentlich spielen? Diese Liste wäre fast endlos zu verlängern, das weiß jeder, der Geige spielt. Mein Fazit: auch wenn ich mir schon Vieles autodidaktisch erarbeitet habe, sind mit der Geige frühe Grenzen gesetzt.

Kuina Profilseite von Kuina, 04.01.2016, 22:01:50

Das Thema ist zwar etwas älter, aber da jemand einen "Hörbeweis" gefordert hat: Ich hab das hier gefunden.

 

https://www.youtube.com/watch?v=AiOjclTM9s4
https://www.youtube.com/watch?v=6MjIKqgX41c
https://www.youtube.com/watch?v=zzzcdZyy9nY
(Die Person spielt seit etwas mehr als zwei Jahren und hatte dabei ca. 8 Stunden unterricht. Ab jetzt arbeitet sie aber mit einer Lehrperson.)

Ich gebe Bea allerdings auch recht, dass ein Hörbeweis etwas nahetretend sein kann, weil ich das Gefühl habe, dass bei solchen Aufführungen die Fehler von autodidaktisch Vorgehenden schnell kritischer bewertet werden (im Sinne eines "siehst du, ich hab's ja gesagt/hab's doch gewusst"-Effekts), während ich das Gefühl habe, dass bei Menschen, die mit Lehrer/innen lernen, eher größere Fehlertoleranz vorherrscht, aufgrund der Haltung, dies wird im Laufe der Lernreise noch von den Lehrenden korrigiert werden.
(Demgegen über steht wohl die Vermutung im Raum, dass Autodidakten diese Fehler vermutlich im Laufe ihres Weiterübends eher nicht mehr korrigieren und es als "Beweis" der Untauglichkeit des Selbststudiums herangezogen wird. Dies und auch der Stand einer Person hängt aber ja nicht nur vom Autodidaktikstatus sondern auch vom Individuum ab, so wie jede/r mit Unterricht anders lernt. Aber ich empfinde es so, dass dies schnell übersehen wird.)

Natürlich ist dies aber nur meine rein persönliche Einschätzung und Wahrnehmung dieses Umstands, daher beanspruche ich mit dem obigen Paragraphen keinerlei Objektivität.

Es ist natürlich auch sehr störend, wenn autodidaktisch vorgehende Menschen sich überschätzen, das sehe ich auch so. Aber wenn schon das Selbstvertrauen, es überhaupt umsetzen zu können (wohlwissend, wie viel harte Arbeit das kostet und auch dass es sehr wahrscheinlich länger dauert), als arrogant und realitätsfern angesehen wird, finde ich das etwas traurig. Selbstbewusstsein ist durchaus nötig, um Autodidaktik überhaupt durchzuhalten. Ich habe das Gefühl, viele interpretieren aber alleine das schon, also den Gedanken "Ich kann mir Geige (mit viel harter Arbeit und Eigeninitiative) selbstbeibringen (auf einem Level, das mich selbst zufrieden stellt)", dass man sich für den nächsten Heifetz hält und glaubt, dass Unterricht eigentlich völlig überflüssig ist und jede/r, der solchen nimmt, ist ja sowieso nur zu doof usw.
Es werden ja auch nicht alle Menschen mit Unterricht Berufsmusizierende, daher halte ich es nicht für gerechtfertigt, anzunehmen, dass plötzlich alle, die autodidaktisch lernen, dies beanspruchen.

(Ausgenommen derer, die sich echt überschätzen, aber persönlich ist mir das noch nicht so oft untergekommen. Aber das ist wie gesagt nur meine ganz persönliche Erfahrung.)

Ich hoffe, mein Post kommt nicht als Angriff oder als aggressiv rüber. Passiert im Internet leider viel zu schnell. Ich wollte nur sachlich meine eigenen Erfahrungen mit autodidaktisch Lernenden und Personen, die Unterricht nehmen, schildern und bin mir der Subjektivität meiner Erfahrungen natürlich bewusst.

Viele Grüße!

Adi220 Profilseite von Adi220, 05.01.2016, 00:06:49

Ich persönlich sehe die Sache nicht so kompliziert.

Ich bin mir sicher, dass niemand, der nicht sehr viel (mehr oder weniger) guten Geigenunterricht genommen hat, niemals in der Lage sein wird, sein Instrument einigermaßen professionell zu beherrschen, was allerdings  nicht schlimm ist, im Gegenteil.

Es hängt nunmal vom eigenen Anspruch ab : Mich würde es jedoch sehr stören, wenn ich permanent wüsste, dass ich mit Unterricht viel größere Fortschritte in kürzerer Zeit erzielen kann, als es im MOment der Fall ist.

Ich sehe ja auch immer wieder an Mitstudenten bzw. natürlich auch an mir selber, wie schnell sich Fehler auf höherem Niveau noch einschleichen.

Es ist schon mit Unterricht nicht gerade einfach, eine wirklich gute, ökonomische Technik und gesunde Haltung zu erlangen, ich möchte schon irgendwo die  Gewissheit haben, dass meine Arbeit zumindest ziemlich effektiv ist.

Ein guter Lehrer ist einfach eine große Abkürzung, für die vielen Wege, die man mit dem Instrument beschreitet.

 

Die Frau aus dem Video scheint nicht unbegabt zu sein, umso ärgerlicher, dass sie sich seit Jahren eine fatale Bogenhaltung angeeignet hat, mit der sie nie wirklich Geige spielen können wird.

Jetzt wird ihr/e Lehrer/in  sehr sehr lange mit ihr noch mal quasi von vorne anfangen , und sie wird ihre schlechten Angewohntheiten ändern müssen. ( Was nunmal leider das langwierigste, schwierigste und frustrierende ist )  :

Also warum nicht gleich richtig!?

 

Beleidigung oder Niedermachen von Autodidakten ist natürlich trotzdem Quatsch, keine Frage, eine realistische Sichtweise kann aber mMn. nicht schaden.

 

LG

 

 

Kuina Profilseite von Kuina, 05.01.2016, 00:35:04

Hallo Adi220,

 

vielen Dank für deinen Beitrag. Es ist schon spät, daher will ich nur auf die Frage des "warum nicht gleich richtig" eingehen:


Ich glaube, für viele hat das einfach mit sehr prakmatischen Umständen zu tun, nämlich Geld.


Geigenunterricht ist ja unheimlich teuer. Bedenken wir mal, dass man a) mindestens mehrere Jahre Unterricht nehmen muss, d.h. eine hohe monatliche Gebühr mal 12 und das nochmal, z.B. mal 3 bis 5 Jahre. Da kommt eine enorme Summe zusammen. Und b) zumindest ganz einfache, aber spielbare Instrumente kann man ja schon für ca. 400 Euro herum erwerben oder für eine geringe Gebühr vielleicht sogar von einer Musikschule ausleihen (meiner Erfahrung nach z.B. ca. 14 Euro pro Monat), je nachdem, wo man wohnt. So eine Einmalanschaffung ist immer noch einfacher durchzuführen, als zusätzlich mehrere Jahre Geigenunterricht zu zahlen. Daher kann ich schon verstehen, wenn Leute sich das selbst beibringen, vor allem wenn man zu alt ist, dass Eltern es einem bezahlen, aber finanziell (noch) nicht vermögend genug, um sich Unterricht zu leisten.

 

 

(Und bezüglich Professionalität: Ich kann nichts zur Geige sagen, aber der Gitarrist von Dragonforce war auch Autodidakt und deren Soli sind ja schon eine ziemliche Hausnummer. :D Aber Gitarre ist da vielleicht auch noch anders. Nicht, dass das jetzt auf alle Selbstlernenden übertragbar ist, aber ganz unmöglich scheint es nicht zu sein, je nachdem, was man für Voraussetzungen hat.)

 

Naja, jetzt bin ich sehr vom Thema abgewichen, denn es sollte ja eigentlich nur ums Bashing gehen, aber ich wollte gerne auf deinen Punkt eingehen.

think Profilseite von think, 05.01.2016, 16:54:23

Hallo zusammen,

 

ich möchte mich auch zu Wort melden, bzw. ein paar neue Gedanken einbringen:

 

Die genannten youtube-Videos sind mittlerweile omnipräsent und überall zu finden (auf Facebook in verschiedenen Violin-Gruppen oder in den unterschiedlichsten Foren). Sicher hat das, was man in den Videos sehen kann, mit viel Arbeit, Fleiß und auch Disziplin zu tun. Aber ich sehe es kritisch: Einerseits werden nur moderne Songs gespielt, die zwar gut ankommen und auch bei manchen den musikalischen Geschmack treffen und vermitteln, dass Geige spielen erlernbar ist, doch weiß man nicht, wie das Können der Dame bei klassischen Stücken, die mitunter anspruchsvoller sind (z.B. in Bogentechnik oder schnellen Lagenwechseln) aussieht. Von daher würde ich dieses Beispiel eben nicht (!) als Beweis dafür nehmen, dass Autodidakten genauso viel erreichen wie Personen mit Geigenunterricht. Das wäre anderen Autodidakten gegenüber eventuell sogar unfair, die schon mehr erreicht haben und eben nicht auf der youtube-Welle surfen.

Die Videos belegen aber wieder, dass die Geige aus der "alten, strengen, fast schon akademischen" Ecke in den letzten Jahren hervorgeholt wurde und nun genauso eine Rolle im modernen Musikleben spielt wie andere Instrumente.

 

Ebenso wird gezeigt, dass man keine Angst vor dem Erlernen des Instrumentes haben muss - und das sollte die eigentliche und tolle Botschaft des Videos sein.

 

Dass es Autodidakten gibt, die ohne Lehrer ein sehr gutes Level erreichen, steht außer Frage (zumindest für mich). Ich finde es aber zu kurz gedacht, dabei alle zu verallgemeinern. Es spielen viel zu viele Faktoren eine Rolle, die bestimmen, wie erfolgreich das autodidaktische Lernen ist. Das füllt ganze Bücher :-) 

 

Von daher ist es auch nicht der richtige Weg, nur der Bezeichnung wegen ("ich bin Autodidakt"), auf einen Lehrer zu verzichten oder aber dies als Begründung für das eigene spielerische Niveau zu sehen. Schlimmer noch: Zu sagen, dass man als Autodidakt so viel erreicht hat und damit den Menschen, die Unterricht nehmen, durch die Blume zu sagen, dass diese von allein ja nicht so viel erreicht haben, sondern nur mit Hilfe. Und so kommt man von einem Autodidakten-Bashing zu einem Geigenschüler-Bashing ;-)

 

Wegen dem finanziellen Aspekt: Manchmal habe ich das Gefühl - und damit möchte ich niemanden zu Nahe treten oder gar etwas unterstellen - dass dieses Argument vorgeschoben ist. Das wird aber sicher nicht auf alle zutreffen.

Aber es wäre doch auch einfach zu sagen, dass man die Geige autodidaktisch lernt, weil man eh keine Ansprüche hat, keine Konzerte geben möchte etc., weil man dann eben keinen Druck hat und weiß, dass man niemanden Rechenschaft über den eigenen Lernerfolg ablegen muss. Ich persönlich würde so eine Einstellung als Lernhindernis empfinden und wenig motiviert. Man kann zwar sagen, dass man nach X Monaten Geige spielen kann, aber das beschränkt sich dann auf ein paar (moderne) Songs. Damit schlägt man aber leider ganz von allein die Tür zu einer wunderbaren Welt voller Herausforderungen und neuen Entdeckungen auf und mit dem Instrument zu.

Vielleicht haben einige Autodidakten auch nur etwas Angst vor dem Unterricht? Weil es unangenehm ist, Fehler vor anderen zu machen? Dann ist es schade um das Talent von denen, die sich nicht zum Geigenlehrer trauen.

 

Mein Ziel ist es immer, so viel wie nur möglich zu geben und weiterzulernen. Das gelingt (mir) am besten mit einem Lehrer, der die Lernerfolge kontrolliert und einfordert, ab und an motiviert und eine Richtung vorgibt. Mit viel Disziplin schaffen das bestimmt auch einige Autodidakten, aber eben nicht alle. Und das muss man auch ehrlich sagen. Ich persönlich versuche immer, die Dinge "richtig" zu lernen und weiß, dass die Geige mich darum noch Jahrzehnte vieles lehren wird. Dazu braucht es aber einen Korrektor - der mithalten kann, weil er eben schon weiter ist und erkennt, wo Schwächen liegen.

 

Wegen den finanziellen Aspekten: Ich hatte eine Mietgeige (28€ im Monat), davor eine billige Chinageige (ganz böser Fehlgriff) und voriges Jahr habe ich mir dann mein eigenes Instrument gekauft. Man hat also Zeit. Für das Erlernen braucht es genauso Zeit. Niemand erwartet (auch kein Lehrer), dass man innerhalb von zwei Jahren alle überholt hat und genial spielen kann. Es erwartet auch niemand, dass man ein eigenes Instrument kaufen muss. Ich zahle für eine Einzelstunde (45 Minuten) 40€. Ich nehme wöchentlich Unterricht, aber es gibt auch andere, die nur einmal im Monat zur Geigenstunde kommen. Das reicht auch - dann gibt es eben ganz genaue Lernanweisungen und man passt den Fortschritt an. Denn auch hier zählt: Man hat ja (gerade als Erwachsener) Zeit, um die Welt der Geige zu entdecken. Ab und erlebe ich, dass immer wieder das Tuch der Exklusivität über die Geige und den Unterricht geworfen wird. Hier muss man aber auch endlich mal die Kirche im Dorf lassen. Klar kostet es Geld, aber es ist nicht das teuerste Hobby der Welt. Und wenn jemand das finanziell trotzdem nicht schaffen kann, findet sich oftmals (leider eher in den Großstädten) eine Lösung. Das wünsche ich jedem.

 

 

 

 

Aranton Profilseite von Aranton, 05.01.2016, 18:34:51

Die Frau aus dem Video scheint nicht unbegabt zu sein, umso ärgerlicher, dass sie sich seit Jahren eine fatale Bogenhaltung angeeignet hat, mit der sie nie wirklich Geige spielen können wird. Jetzt wird ihr/e Lehrer/in  sehr sehr lange mit ihr noch mal quasi von vorne anfangen , und sie wird ihre schlechten Angewohntheiten ändern müssen. ( Was nunmal leider das langwierigste, schwierigste und frustrierende ist )

 

Ich sehe in dem Video einen ganz ordentlichen russischen Bogengriff. Gut, sie fasst den Bogen etwas sehr weit oberhalb des Frosches an, aber das sieht man bei kleinen Menschen öfters; sie würden anders nicht bis an die Spitze spielen können. Für jemanden, der den Franko-Belgischen gewohnt ist, sieht der natürlich recht merkwürdig aus, aber er erfüllt seinen Zweck. Er ist inzwischen etwas aus der Mode, aber Leute wie Jascha Heifetz und Nathan Milstein war er keineswegs fatal, sie konnten damit durchaus "wirklich Geige spielen". Guckst Du hier. Insofern gibt es keinen Grund, warum man die Frau aus den Videos zu denen Kuina verlinkt hat, auf einen anderen Bogengriff umzustellen.

Aber das hat weniger mit Autodidakten-Bashing zu tun, wie der "richtige" Bogengriff aussieht, ist fast schon ein Glaubenskrieg. Ich kann das nicht so recht nachvollziehen; jeder muss für sich herausfinden, was für ihn am besten funktioniert, und solange es funktioniert, ist es auch richtig. Ich bin nach einem Lehrerwechsel von franko-belgisch auf russisch umgestellt worden, habe also mit beiden Erfahrung und weiß, dass sie beide ihre Vor- und Nachteile haben. Letztlich ist es Geschmackssache, was man bevorzugt.

Kuina Profilseite von Kuina, 05.01.2016, 21:38:26

@ think
 
Es gibt einige Punkte, die ich anders sehe. Der Text ist ungewollt sehr lang geworden, was im Internet ja schnell wie wildes Ranting wirkt. Allerdings bin ich nicht verärgert, sondern möchte nur neutral Perspektive darlegen. Kurzfassen ist einfach nicht meine Stärke. Falls etwas im Zweifelsfall also aggressiv wirkt, dann ist das nicht beabsichtigt.


Ich weiß, du hast gesagt, dass bei manchen Geld durchaus eine Rolle spielen kann, aber es klang für mich so, dass du es bei vielen doch als Scheinargument ansiehst. Darauf möchte ich gerne eingehen.
Es ist (ohne Sarkasmus) toll, wenn du in der Lage bist, dir Unterricht zu nehmen, vielleicht sogar durch Aufopferung anderer Sachen (ich weiß nicht, wie es finanziell um dich gestellt ist und möchte es aus Anonymitätsgründen auch gar nicht erfragen). Aber das bedeutet nicht, dass andere Menschen dies auch so einrichten können.
Vor allem viele junge Erwachsene können sich so etwas nicht leisten. Ich kenne z.B. im studentischen Umfeld niemanden (aber ich will nicht ausschließen, dass sie existieren), der/die trotz Nebenjob, Unterricht nehmen kann, wenn dieser nicht von ihren Eltern getragen wird. Wenn man darüber hinaus keinen finanziellen Mittelschichthintergrund hat, wird es noch schwieriger.
Daher kann ich mir auch vorstellen, dass einige "Nicht-mehr-Junge-Erwachsene", die nicht so gut gestellt sind, aber gerne Geige lernen wollen, ebenfalls Probleme haben, die Kosten zu tragen.


Dieses Argument klingt für mich etwas nach  "Autodidakten wollen es nur nicht genug, sonst würden sie eine Möglichkeit finden, sich zu finanzieren". Es mag sein, dass du das nicht so gemeint hast, daher entschuldige ich mich bezüglich meiner Inbrunst zu diesem Thema. Aber dieses Argument habe ich zuvor schon gehört und es verkennt völlig, dass es manchmal einfach nicht solche Möglichkeiten gibt, obwohl jemand es sehr will.


Natürlich ist das nicht der Grund, für alle autodidaktisch Lernenden. Es ging mir nur darum, zu verdeutlichen, dass es sich hierbei meiner Meinung nach nicht nur um einen Scheingrund handelt und ich bin immer noch der Meinung, dass es so einige betrifft.


(Am Rande: Ich hab vorher auch noch nie gehört, dass man als Erwachsener mehr Zeit hat als Kinder…trifft zumindest nicht auf mich zu. Aber das ist ein anderes Thema.)


Auch bei dem Argument bez. der Angst vor professioneller Korrektur weiß ich nicht, wie stimmig dies ist. Ich hatte in meiner Jugendzeit durchaus Musikunterricht und hatte keine Angst vor der Korrektur. Aber das ist nur meine persönliche Erfahrung.


Das Letzte, auf das ich eingehen möchte (auch auf die Gefahr hin, dass es etwas off-topic wird) und das ich sehr anders sehe, ist deine Kritik an populären Liedern + Mangel an Motivation. Darüber hinaus klingt es auch sehr nach der allzu alten Trennung zwischen U-Musik (der "schlechteren" Musik) und E-Musik (der "guten" Musik):


Ich stimme nicht zu, dass das Bevorzugen populärer Stücke dem geschuldet ist, dass jemand nicht wirklich motiviert ist, sich mit dem Instrument auseinander zu setzen sondern geschmackliche Ursachen hat. Es interessiert sich nicht jeder für Klassische Musik, wohl aber für die Geige. Ein Instrument ist ja, wie du selbst gesagt hast, nicht nur für eine Musikrichtung gemacht. Leuten anzukreiden, weil sie sich "nur" für populäre Musik interessieren, halte ich nicht für zielführend. Wenn es gerade das ist, was ihnen Freude macht und sie sich genau dadurch ausdrücken können, ist das meiner Meinung nach völlig legitim. Das ist ungefähr so, als wenn man jene, die Popgesang üben, kritisiert, weil sie nicht die Komplexität der Klassik erfahren, sie daher nicht so hohe Ansprüche an das Singen hätten und ihr Gesang aufgrund der mangelnden Fähigkeiten Opern zu singen, geringer ist (und ihre Aussage "Ich kann singen" daher nicht so ernst zu nehmen ist wie die klassisch Singender). Dabei singen sehr viele, die Pop üben, sehr leidenschaftlich.


Wenn die Frau aus dem Video sich daher eher für andere Musik interessiert, dann fehlt es ihr sicherlich an den von dir genannten Fähigkeiten, die für klassische Stücke nötig sind. Sie kann einfach das spielen, was sie spielen möchte, das heißt, bezüglich dieser Stücke kann sie Geige spielen. (Dabei weiß ich auch gar nicht, ob sie Klassik nicht mag und ob sie vorhat, diese zu spielen. Sie nimmt ja jetzt Unterricht, daher nehme ich sie jetzt einfach stellvertretend für diejenigen, auf die es zutrifft.)


Es geht hier ja auch gar nicht darum, wieviel Autodidakten erreichen können, sondern um die Einstellung bezüglich Selbstlernenden an sich, also dass man oft negative Reaktionen erhält, alleine dafür, dass man so vorgeht.


Bezüglich dazu, dass manche gar nicht vorspielen möchten usw: Ich verstehe nicht wirklich, warum es so schlimm ist, wenn jemand nur für sich selbst spielen will, d.h. warum andere Ansprüche nur Ausflüchte sein sollten.

Ein Hobby abzuwerten, weil jemand nicht die höchste Meisterschaft erreichen möchte, kann ich nicht nachvollziehen. Dein Ehrgeiz in allen Ehren (pun not intended), denn diesen teile ich persönlich sehr, aber das schmälert für mich nicht andere Bedürfnisse, die weniger Exposition beinhalten. Es gibt andere Hobbies, die ich auch mehr vertiefen könnte, die für mich jetzt aber nicht so wichtig sind wie Geige und ich muss meine zeitlichen Prioritäten setzen. Sicherlich geht es anderen mit ihrem Alltag auch so, nur das die Priorität hier nicht auf der Geige liegt.


Auch klang es ein bisschen so, als wenn dieser Mangel an Anspruch ein generelles Merkmal Selbstlernender ist? Kann gut sein, dass ich dich falsch verstehe, also korrigier mich ruhig, aber so wie du es angeführt hast, klang es etwas so.
 

Ok sorry für die Textwand. Tldr, ich hab Hunger. n

Adi220 Profilseite von Adi220, 06.01.2016, 00:59:33

@Aranton
Ich glaube nicht, dass ich im Einzelnen aufzeigen muss, warum diese Haltung absolut indiskutabel ist.

Erstmal muss man den Bogen nicht weiter oben anfassen, dann passt man eben Kinnhalter etc. an und platziert die Geige mittiger. Aber das ist ja auch eher nebensächlich.

Mir ist selbstverständlich der Unterschied zwischen beiden Schulen bekannt, die Haltung der oben genannten Youtuberin hat damit jedoch nichts zu tun, grade wenn du einen Heifetz als Paradebeispiel für eine wunderbare (russische) Bogenhand anfürst, fällt der Unterschied doch sofort auf.

Ihre Finger sind stocksteif, fassen den Bogen nur mit den Fingerspitzen an, das Handgelenk (ebenfalls unbeweglich) ist permanent gebeugt. Ich könnte jetzt noch viele Sachen aufzählen, Fakt ist jedoch, dass mit so einer Haltung ein mittelschweres romantisches Konzert niemals spielbar sein wird. Ebenso die Produktion eines flexiblen, großen Klanges, ganz zu Schweigen von Spiccato oder Akkorden aus der Luft.  Sie ist in jeder Hinsicht völlig eingeschränkt, mal ganz abgesehen von den gesundheitlichen Problemen, die ab einem gewissen Übepensum zwangsläufig auftreten wird.

Und all das liegt nicht daran, dass sie sich dumm anstellen würde , oä.- es ist einfach nicht möglich, ohne  Geigenstunden ein  technisch tadelloses Geigenspiel zu entwickeln, und nein , ich rede natürlich nicht davon, dass jeder in der Lage sein muss, ein Brahms-Konzert Blitzsauber zu spielen, aber es wäre doch super, wenn bei jedem eine gewisse grundsolide, technische Basis vorhanden wäre. Und zu lernen, wie man eine wirklich gute Phrase spielt, oder einen nuancenreichen, schönen Ton erreicht, das ist ja auch nochmal ein völlig anderes Thema .

 

Jedoch ist mit der Entscheidung, das Instrument ohne Unterricht zu lernen , wirklich keinem geholfen, es hat nur Nachteile, zumindest im rational nachvollziehbaren Sinne.

 

@Kuina Das mit dem Geld ist natürlich ein wichtiger Punkt, es wäre aber immer noch besser, wenigstens selten die ein oder andere Lektion zu nehmen, damit der Lehrer die Haltung uä. überprüfen kann.

 

Falls man niedrigere Ansprüche an sein Spiel hat, ist das kein Problem, trotzdem wird man auch diesen schneller gerecht, wenn man die ABkürzung über einen Lehrer sucht, ganz abgesehen davon, dass man seiner Gesundheit damit einen Gefallen tut, und möglichem Frust und den vielen aufkommenden Fragen Abhilfe schaffen kann.

 

LG
 

Sysopa Profilseite von Sysopa, 06.01.2016, 08:38:31

@Adi220:

 

"...es ist einfach nicht möglich, ohne  Geigenstunden ein  technisch tadelloses Geigenspiel zu entwickeln..."  

 

Die Aussage halte ich für schlicht überheblich, arrogant und falsch...

 

...und wenn Du ein steifes Handgelenk und starre Finger gleichsetzt mit einer schlechten (russsischen) Bogenhaltung gleich setzt, reden wir hier alle aneinander vorbei: ein weiches Handgelenk und federnde Finger sind Voraussetzung bei *jeder* Bogenhaltung... und wenn sie da noch ein Defizit hat, ist es sicherlich ohne großes "Umlernen" umsetzbar.

 

Ich selbst nutze für verschiedene Bereiche (und sogar verschiedene Bögen) auch verschiedene Bogenhaltungen - Irish fiddle stellt andere Anforderungen, als harter Rock oder wiederum klassische Musik (wobei man auch da ja durchauch Elemente des Fiddle antrifft).

 

Ps: ich bin übrigens auch einer dieser unsäglichen Autodidakten.

 

Tommok Profilseite von Tommok, 06.01.2016, 09:35:57

Viele Leute in Folk-, Country-, Rock und sonstigen Ecken sind Autodidakten, teilweise mit Haltungen, von denen man hier noch nie etwas geahnt hat. Das funktioniert dann, wenn sie wirklich begabt und fleißig sind, für den jeweiligen Stil auch häufig recht gut oder sehr gut. Viele wirklich gute Irish Fiddler oder Bluegrasser (um nur einige zu nennen) sind Autodidakten.

 

Für klassische Musik außerhalb der eigenen vier Wände (z.B. Kammermusik, Amateurorchester) ist mir persönlich kein Beispiel bekannt von jemandem, der ohne jemals Unterricht gehabt zu haben z.B. in einem Amateurorchester oberhalb eines gewissen (recht niedrigen) Levels hätte sinnvoll mitwirken können.

 

Ich bin gerne bereit, mich vom Gegenteil überzeugen zu lassen, aber bisher ist dies nicht gelungen. Es gibt im einigermaßen gehobenen Amateurorchesterbereich schlicht und ergreifend keine Autodidakten, vom Profibereich völlig zu schweigen.

 

Wer in seinem nicht-klassischen und/oder rein privaten Bereich bleiben will, der möge mit der selbst erlernten Technik (und nicht zu vergessen den "soft skills" wie Phrasierung, Einrichtung der Bogenstriche, -Techniken und Fingersätze, Klanggestaltungsmöglichkeiten, Stilistiken usw usf.) glücklich werden, und es sei ihm herzlich gegönnt. Jedem anderen sei doch wirklich herzlich empfohlen, Unterricht zu nehmen. Es gibt auch preisgünstige und sogar öffentlich geförderte Angebote dafür.

Sysopa Profilseite von Sysopa, 06.01.2016, 13:10:01

Nun sind wir ja aber zum Glück hier in einem Geigen-Forum und keinem "Klassische Geige Forum" - und mit der Geige ist nunmal  mehr möglich als Mozart und Händel...

 

(an dieser Stelle empfehle ich mal das Video von Rieu vs. Sheahan:  https://www.youtube.com/watch?v=autdjwKLJZY - wobei man sich bei Rieu sicher sowieso streiten könnte, wo man ihn einordnen soll *g*)

 

Adi220 Profilseite von Adi220, 06.01.2016, 13:19:14

@sysopa

"Ps: ich bin übrigens auch einer dieser unsäglichen Autodidakten."

Ich habe doch schon gesagt, dass ich generell gar nichts gegen Autodidakten habe, nur sollte man sich über die Fakten im Klaren sein.

 

"...und wenn Du ein steifes Handgelenk und starre Finger gleichsetzt mit einer schlechten (russsischen) Bogenhaltung gleich setzt, reden wir hier alle aneinander vorbei: ein weiches Handgelenk und federnde Finger sind Voraussetzung bei *jeder* Bogenhaltung... und wenn sie da noch ein Defizit hat, ist es sicherlich ohne großes "Umlernen" umsetzbar."

 

Richtig, manche Vorraussetzungen sollten in jeder Geigenschule gegeben sein, das wollte ich ja Aranton auch klarmachen, mir war es ja gerade wichtig, zu sagen, dass diese Haltungsfehler weniger mit einer russischen Bogenhaltung zu tun haben, sondern ein allgemeines Problem sind. Ist vielleicht falsch rübergekommen.

 

Dass im Video mehr als ein "Defizit" zu sehen ist, dass man mal eben so beheben kann, sollte aber auch klar sein, vorallem: Stell dir vor, diese Frau übt sich Jahre lang ganz viele falsche Dinge ein, wäre es nicht viel schöner, wenn einfach von Anfang an ein Geigenlehrer sie darauf aufmerksam macht und diese Probleme im Keim erstickt?

Hätte sie sich nicht dazu entschieden, nun Geigenunterricht zu nehmen, würde sie nie eine saubere Technik erlangen können.

 

<Denn ich sehe immer noch ganz oft bei guten Geigern, die "alles" spielen können, wie sie sich vermeintliche kleine Fehler eingeübt haben, und dadurch früher oder später Schmerzen oder anderweitige Probleme bekommen, und auch von mir selber weiß ich, wie lange es dauern kann, so manche "Kleinigkeiten" wirklich effektiv zu ändern.

Und ich spreche von begabten Leuten, die jahrzehntelang Unterricht bei sehr guten Lehrern/Professoren hatten, wie soll also ein Autodidakt diese ganzen Hürden überwinden?

 

Und wie @tommok schon ganz richtig schreibt, mit Irish Fiddle z.b. habe ich keine Erfahrungen, ich beziehe mich vornehmlich auf Klassische Musik, aber auch Stichwort Rockmusik : Wenn man sich mal die Arrangements von David Garrett ansieht, was wird da gefordert? Klassische Geigentechnik, und meistens ist es nichtmal sehr einfach.

Auch sowas erfordert eine solide klassiche Ausbildung.

 

Und darauf bezog sich ja meine angeblich "arrogante und falsche" Aussage.

Ich wüsste einfach nicht von einem Geiger, der ein mittelschweres romantisches Konzert (Mendelssohn/Bruch etc.) oder auch meinetwegen eine Bach Sonate/partita  wirklich gut spielt und nie Geigenunterricht genommen hat.

Gegenbeispiele wären naürlich gerne gesehen, ich halte es aber nicht für möglich.

Wenn jemand , wie @tommok bereits erwähnte, mit seinem selbst erlernten "Können" zufrieden ist, dann ist das natürlich auch sehr schön.

 

Und überheblich ist doch wohl eher jemand, der meint, er könne sein Instrument (geige) im klassischen Sinne beherrschen ohne Unterricht, was wohl noch niemanden gelungen ist.

 

Aber wie auch immer, jedem das seine, ich habe wirklich nichts gegen Autodidakten, auch ich habe im letzten halben  Jahr fast ohne Unterricht gearbeitet, aber ich bin der festen Überzeugung, dass man dazu eine solide Basis haben sollte, zumindest falls man es ernsthaft betreiben möchte.

 

Lg

think Profilseite von think, 06.01.2016, 14:32:25

Wow- das wird eine interessante Diskussion! ;-)


@ Kuina:


Herzlichen Dank für Deine tolle Antwort - das ist wirklich mal eine gute Position für Diskussionen - sachlich, betont aber nicht aggressiv oder gar zu emotional. Danke - es freut mich gerade sehr, dass es noch Menschen gibt, mit denen man vernünftig reden/schreiben kann - und das sogar in einem Internetforum :-) Und keine Sorge bezüglich der Länge des Textes: Ich wollte eigentlich auch nicht sooo viel dazu schreiben, aber irgendwie... naja - Du kennst es ja auch ;-)

Darum gehe ich gern auf Deine Worte ein und teile aber mal die einzelnen Themen auf, die hier diskutiert werden:

Das Geld-Argumente bei Autodidakten:

Ob und wie viele Personen das Argument vorschieben, dass sie sich Unterricht finanziell nicht leisten können, weiß ich natürlich nicht. Das müsste man mal erheben, aber selbst da würde bei den Antworten die soziale Erwünschtheit wieder eine Rolle spielen, so dass man einen wirklich guten Fragebogen erstellen müsste. Das heißt: ich bzw. wir werden wohl nie erfahren, wie gewichtig das Geld für einzelne Personen ist, dass sie die Geige nur autodidaktisch erlernen können. Meine Gedanken beruhen daher nur auf Beobachtungen und mein subjektives Gefühl, wenn ich mich mit Autodidakten unterhalten habe oder Schilderungen in Foren lese - aber auch da gibt es immer die berühmten zwei Seiten der Medaille. Also alles sehr vage. Ich wollte das Argument aber dennoch anbringen, um bei der Diskussion auch mal diese Sichtweise einzunehmen, die sicherlich für den ein oder anderen recht provokant oder gar arrogant wirken mag. Aber das regt auch wieder zum nachdenken an. Denn es führt zum nächsten Problem:

Autodidakten-Bashing oder Geigenschüler-Bashing?

Auch diese Frage sollte einmal gestellt werden. Kann es nicht auch Fälle geben, in denen Personen die Geige bewusst autodidaktisch erlernen, um in ihrem Umfeld als etwas besonderes wahrgenommen zu werden und damit einen Vorteil in Sachen Anerkennung gegenüber Geigenschülern zu erlangen?

Würde das ein Autodidakt zugeben (vorausgesetzt, er hat nicht die Persönlichkeitsstruktur von Sheldon Cooper)? Ich vermute eher nicht. Und da könnte man dann das Geld-Argument anbringen um eine Begründung dafür zu haben, dass man das Geigenspiel eben autodidaktisch erlernt.

Zusammenfassend:

Wie gesagt - das ist ein Gedankenexperiment und ich möchte wirklich niemanden zu Nahe treten, der tatsächlich darauf angwiesen ist, autodidaktisch bzw. ohne Lehrer zu lernen. Dass es das gibt, steht ja nun wirklich außer Frage. Insgesamt möchte ich jedoch nicht zu arrogant wirken - ich nehme meine Person bei der Diskussion gänzlich heraus (soweit es eben geht), sondern bin eher gespannt, welche Antworten es auf die provokanten Gedankenexperimente gibt und wie man damit umgehen kann. Ich finde es immer bereichernd, wenn nicht nur eine Position eingenommen wird - also, dass Autodidakten darauf angewiesen sind, allein zu lernen, weil es finanziell nicht anders möglich ist. So gesehen lernen sie auch nicht allein, sondern haben Lehrer in Form von Tutorials, Videos, Anleitungen etc. Es fehlt nur das Feedback - und das finde ich für das Lernen und den Lernerfolg ganz wichtig. Die Vorteile eines Lehrers gerade in Bezug auf die Körperhaltung etc. wurden ja jetzt schon mehrfach in der Diskussion genannt und dem möchte ich mich auch gern anschließen.

 

Autodidaktisch kann man sicherlich eine Menge erreichen, aber ich finde, dass man auch wissen muss, dass es meines Erachtens dann bei der Geige eine Grenze gibt. Wenn das Erlernte aber für einen selbst ausreicht, ist es gut und bringt sicherlich auch ganz viel Freude und man kann bzw. muss stolz auf sich sein. Aber man muss dann auch damit leben können, dass man mitten auf dem Weg stehen bleibt oder sich der Fortgang nur schwierig gestaltet.

OT: Musik ist nicht gleich Musik - oder: Pop vs. Klassik?

Ach - die Diskussion hatte ich gar nicht beabsichtigt ;-) Ich höre auch Popstücke oder auch sehr gern Metal, in denen eine Geige die Hauptrolle spielt. Gar keine Frage! ;-)

Ich finde aber, dass man so ehrlich sein muss, um zu erkennen, dass die Ansprüche von Klassik und Pop unterschiedlich sind - und das bezieht sich jetzt nicht darauf, dass Pop ein niedrigeres Niveau hat oder eher "Unterschicht" ist, um es mal ganz derb auszudrücken und um mit dem Klischee zu spielen. Es geht mir nur (!) um die technischen Ansprüche: Bogentechnik etc. Das braucht man (vielleicht) weniger bei einigen Popstücken. Sie klingen trotzdem gut und man muss da auch in der Lage sein, den Bogen ordentlich zu führen und die Intonation muss sauber sein (und noch vieles mehr). Aber (das berühmte Aber...): Bei Klassik wird man nochmal mehr gefordert, da viel mehr Technik notwendig ist, die einzelnen Sätze unterschiedliche Charaktere haben etc. Die Basics sind also die Gleichen. Der Unterschied liegt darin, dass man sich mit Klassik wohl noch etwas mehr weiterentwickeln kann. Pop (jetzt mal verallgemeinernd für alles, was eben nicht Klassik ist) ist also genauso gut wie Klassik. Aber Klassik bietet mehr Möglichkeiten der Weiterentwicklung mit und auf dem Instrument.

Ein Hobby wird nicht dadurch abgewertet, dass jemand nicht die Meisterklasse erreichen möchte. Ich finde es nur persönlich schade, wenn jemand, der sich schon mühsam die Grundlagen des Geigenspiels angeeignet hat (ob nun allein oder durch Unterricht), dann stehenbleibt. Sicherlich ist das Erreichte dann für den ein oder anderen genug und man kann damit durchaus zufrieden sein und den eigenen Ansprüchen genügen. Das ist ganz legitim und auch normal (wenn nicht schon Alltag). Ich sehe dabei aber auch das, was einem dadurch verwehrt bleibt - und das ist so schade daran. Die Geige ist anspruchsvoll und voller Möglichkeiten und es ist wirklich schade, wenn man das nicht zumindest etwas ausprobiert.

Von daher glaube ich nicht, dass Autodidakten grundsätzlich immer schlecher bewertet werden als Personen, die Unterricht nehmen. Zumindest mache ich das nicht. Mir geht es nur um die Möglichkeiten der Entwicklung auf dem Instrument. Und manchmal muss sich als Person, die Unterricht nimmt, auch ganz schön gegen einige Klischees wehren: das man gut situiert ist, dass man halt zu den Glücklichen zählt, die Unterricht nehmen können, dass man fast schon versnobt ist, dass man zu einer Elite gehört, dass Geige ein exklusives Instrument ist, Klassik irgendwie immer akdademisch, dass man wohl zu den besseren Menschen gehört ... Also da muss man sich manchmal auch sehr verteidigen, um nicht ganz schnell in einer Schublade zu landen ;-) Denn oftmals trifft das alles auch gar nicht zu :-) Da geht es uns allen gleich: Ob Autodidakt oder Geigenschüler. :-)

 

Viele Grüße!

Aranton Profilseite von Aranton, 06.01.2016, 15:27:32

Ich glaube nicht, dass ich im Einzelnen aufzeigen muss, warum diese Haltung absolut indiskutabel ist.

 

Na das nenne ich mal charmant. Aber eines solltest Du schon aufzeigen: Und zwar auf welcher Grundlage Du ihre Bogenhaltung eigentlich so in Bausch und Bogen verdammen kannst. Die Hand der Frau ist doch nur wenn sie im unteren Viertel (naja , wenn sie die tiefen Saiten spielt vielleicht auch im unteren Drittel) des Bogens unterwegs ist überhaupt im Bild... Du weißt nicht, wie ihre Haltung aussieht, wenn sie an der Bogenspitze spielt und da man nicht beurteilen kann, was man nicht sieht, sind Deine Einschätzung über das unbewegliche Handgelenk und die stocksteifen Finger etwas voreilig und deshalb in ihrer absoluten Gewissheit nicht gerechtfertigt.

Adi220 Profilseite von Adi220, 06.01.2016, 17:22:15

@Aranton  Du musst verstehen, dass es ziemlich mühsam und schwierig ist, all diese Sachen hier in schriftlicher Form aufzuzeigen. Viel leichter und zeitsparender wäre es natürlich von Angesicht zu Angesicht.

Aber lass es mich nochmal versuchen:

das Handgelenk sollte niemals so extrem gebeugt sein, schon gar nicht auf Dauer.

Außerdem: Gerade, weil wir den Bogen hauptsächlich bei ihr am Frosch sehen, verstärkt sich mein Eindruck noch, denn:



Gerade am Frosch sollten die Finger nie so duchgestreckt sein, das sollten sie nie, aber an der Spitze wäre es noch eher verschmerzbar, insofern bin ich mir sicher, dass sie in Richtung Spitze nicht runder werden, im Gegenteil- einzig das Handgelenk könnte eine etwas neutralere Position einnehmen, aber diese Bewegung müsste auch schon beim Bogenwechsel am Frosch anfangen.

Es gibt ja das einfache Beispiel mit einer Katze, die ihren Sprung abfedert: Stell dir vor, eine Katze kommt mit solch steifen, gestreckten Fingern am Boden auf, die Finger agieren (im besten Falle) als unser Stoßdämpfer, und nun stell dir vor, diese Frau versucht, schnelle Akkorde aus der Luft wie im Brahms oder Bruch Konzert zu spielen:

Nicht nur, dass ihr der Bogen aus der Hand rutschen wird, er wird hart und unbeweglich auf die Saiten krachen, kein Klang entsteht, weil Finger und Handgelenk die wucht nicht abfangen können.



Aber nicht nur diese "Extremsituation" wird zum Problem, sondern jeder einzelne Strich, denn beim Bogenwechsel am Frosch bewegt sich nichts, weil die Hand völlig steif ist, da:

-ihr kleiner Finger völlig durchgedrück und nicht rund ist

-ihre Hand sich permanent in der Pronation befindet, und der hintere Teil der Hand nicht benutzt wird, was man aber mit sehr viel gutem Willen noch als "russische Schule" entschuldigen kann

-die "Höcker" also Grundgelenke der rechten Hand viel zu stark herausstehen, Handgelenk, Arm und Gelenke sollten wenigstens ansatzweise  eine Linie bilden

-Mittel und Ringfinger berühren den Bogen nur ganz oberflächlich, gerade der Ringfinger müsste tiefer herunter, mit ihm kann Stabilität aufgebaut werden und mit diesen groben (und noch vielen kleinen) Mängeln wird man nie einen satten, flexiblen Klang aufbauen können, geschweige denn fortgeschrittene Techniken meistern können.

Gerade bei der Erarbeitung eines wirklich anspruchsvollen  Stückes können wirkliche "Kleinigkeiten" einen wirklich behindern, und diese Vorgänge sind so komplex, dass solche Grundlagen gar nicht mehr in Frage gestellt werden sollten, sondern wie selbstverständlich ablaufen sollten. Ich glaube, der ein oder andere macht sich auch nicht klar, was es heisst, sein Instrument technisch wirklich zu beherrschen. Denn das ist eine unfassbare Leistung

 

Dass der Mensch überhaupt in der Lage ist, so ein Instrument wie die Geige zu spielen, ist doch an sich schon wirklich unglaublich, und wie soll denn ein Mensch es überhaupt schaffen, all die unzähligen Hürden und Fallen ohne die Hilfe von anderen Menschen zu überwinden?

Wenn ich sage, dass es unmöglich ist, wirklich gut zu spielen ohne Unterricht, dann sage ich das nicht aus Arroganz oä. , im Gegenteil, ich sage es aus der Hochachtung vor diesem Instrument und vor der Musik im Allgemeinen.

Wenn es natürlich jemanden reicht, mal ein Liedchen am Lagerfeuer mitzuspielen, sind ihm solche Sachen völlig zurecht egal und das ist auch absolut ok, aber ich denke, gerade hier ist der Anspruch doch ein etwas anderer

Lg

Bavarica Profilseite von Bavarica, 07.01.2016, 18:42:23

Ich hab mir die Videos und auch das Q&A von "Violin Noobie" (so nennt sie sich) angesehen. Ein sehr sympathisches Mädel, sehr authentisch und bei der Musik, die sie spielt, ganz bei sich. Macht Spaß, ihre Freude und völlige Unverkrampftheit dabei zu sehen.  Und ja, sie stellt sich nicht dumm an, hat sich hauptsächlich durch Abschauen in Online-Tutorials einiges draufgeschafft. Und ich freue mich für sie, dass sie nun (wieder) Unterricht nimmt, weil sie musikalisch ist und weil sie das, worin sie offenkundig Spaß hat, mit besserer Technik auch besser spielen kann und sich ihre Möglichkeiten einfach vergrößern. Dass sie, die nach zweieinhalb Jahren recht nett dahinspielt, wieder einen Lehrer gesucht hat, spricht ja auch dafür, dass sie weiterkommen will, egal in welche Richtung. Ich an ihrer Stelle (Norwegerin) würde wohl auch in die faszinierende Welt der dort beheimateten Hardanger-Fiddles hineinschnuppern.

Fiddletroll Profilseite von Fiddletroll, 08.01.2016, 12:09:59

Was mich bei dieser Diskussion verwundert ist der wie selbstverständlich in den Raum gestellte Anspruch, technisch anspruchsvolle Werke der Klassik als Regelfall anzunehmen. Allein in Deutschland ist die Geige ein vorwiegend klassisch gespieltes Instrument. Und auch wenn die "klassische Technik" eine tolle Basis für andere Spielarten darstellt, so werden viele Dinge klassisch nicht unterrichtet, während sie für Autodidakten ganz selbstverständlich dazugehören - freie Improvisation, Spielen und Improvisieren zu Playalongs, Phrasierung von Folk, Country, Irish und Jazz. Da wird nicht lang verkopft über den rechten Ringfinger diskutiert, da wird losgefiedelt und wenn der Bogen sich anders besser führen lässt, dann wird das eben gemacht - oder auch nicht. Es geht nicht JEDEM um das Erreichen des klassischen Idealklangs. Für viele Menschen ist Geige spielen einfach ein Ausdruck ihrer Persönlichkeit, ihrer Lebensfreude, ein Ventil für die Dinge, die sich mit Sprache nicht ausdrücken lassen.

 

Und wer sich mal einen ordentlich geigenden Autodidakten anschauen möchte, der kann ja mal nach "Darol Anger" suchen...

Sysopa Profilseite von Sysopa, 08.01.2016, 13:43:00

DANKE! Du sprichst mir so aus der Seele!

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